Moderner Aberglaube

Nichts zu verbergen?

Ein bunter Strauß von Erwiderungen auf einen gefährlichen Mythos.

Niemand hat nichts zu verbergen

Wer sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von Überwachung beschäftigt und seine Privatsphäre schützen möchte, hört diese Erwiderung wieder und wieder. So unreflektiert dieser Satz ist, so hartnäckig hält er sich. Und wir haben die Nase voll davon. Denn die Behauptung „Ich habe nichts zu verbergen“ ist vieles, nur nicht zutreffend.

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1. Das ist falsch

Geheimnisse formen unsere Identität. Außerdem geben Sie die PIN zu Ihrer Bankkarte ja (hoffentlich) nicht weiter - und die Klotür machen Sie (wahrscheinlich) auch hinter sich zu.

2. Das ist unüberlegt

Denn es missachtet den Zusammenhang zwischen Freiheit, Geheimnissen und Machtverhältnissen: Jemand, der alles über uns weiß, kann uns leicht erpressen oder manipulieren.

3. Das ignoriert gesellschaftlichen Wandel

Was heute gesellschaftlich akzeptiert ist, könnte Sie schon morgen in Schwierigkeiten bringen. Denn Zeiten ändern sich. Und auch das, was wir als richtig und falsch einstufen.

4. Das ist geschichtsvergessen

Denn es lässt die Folgen radikaler Regierungswechsel außer Acht. Die deutsche Geschichte zeigt, dass gesammelte Informationen über die Bevölkerung in den Händen von radikalen Regimen ein erschreckendes Missbrauchspotential entfalten.

5. Das ist logisch falsch

Es impliziert: Wenn Sie etwas zu verbergen haben, haben Sie etwas Falsches getan, was Sie jetzt verheimlichen müssen. Das ist ein weit verbreiteter logischer Fehlschluss (Inversionsfehler): Auch wenn kriminelle Machenschaften im Verborgenen stattfinden, bedeutet das noch lange nicht, dass alles, was verborgen bleibt, auch kriminell ist.

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6. Das ist übergriffig und wertend

Denn es vermittelt, dass Sie sich einer Norm unterwerfen müssen, um toleriert zu werden. Wer „komische“ Sachen im Bett macht, Haschisch raucht oder eine Liebesaffäre hat, wird in einen Topf mit Kriminellen geworfen.

7. Das ist naiv

Eine einzelne Information wie z. B. Ihr Geburtsdatum oder Ihr Hobby mag harmlos sein. Aber aus vielen solchen Daten werden im großen Stil Profile konstruiert und genutzt, um unser Verhalten vorauszusagen und zu manipulieren. Das Missbrauchspotential (z.B. für Heiratsschwindler, Stalkerinnen oder sexuelle Gewalttäter) wird maßlos unterschätzt.

8. Das ist unsolidarisch

Je mehr Menschen glauben, dass sie nichts zu verbergen hätten, desto verdächtiger wird es, überhaupt Geheimnisse zu haben.

9. Das ist ignorant

Geheimnisse – das wissen nicht nur Jugendliche in der Pubertät – sind entscheidend für unsere Identitätsfindung. Gerade, um den vielen unterschiedlichen Rollen im Alltag gerecht zu werden, müssen wir selbst entscheiden, wer was über uns erfährt. Oder wollen Sie, dass Ihr Chef weiß, dass Sie wegen einer Pilzinfektion zum Arzt mussten?

10. Das ist demokratiefeindlich

Ohne Vertraulichkeit ist keine freie Meinungsbildung möglich, was Grundvoraussetzung für freie Wahlen ist. Es gibt einen guten Grund, weshalb es Wahlkabinen gibt. Wer sein Wahlverhalten nicht verbergen kann, ist erpressbar und manipulierbar. Wer „nichts zu verbergen“ hat, disqualifiziert sich für den demokratischen Prozess und wird es schwer haben, sich gegen undemokratische oder unmenschliche Autoritäten zu wehren.

11. Das ist privilegiert

Diese Haltung muss man sich leisten können. Menschen, die befürchten müssen, wegen diskriminierter Merkmale angegriffen zu werden, können wohl nicht so frei heraus sagen, sie hätten nichts zu verbergen. Wer ein eigenes Zimmer hat, ist sich vielleicht nicht bewusst, wie viele Geheimnisse die vier Wände schützen. Wer sich ein Zimmer teilen muss, sehnt sich danach, einmal so privilegiert zu sein, dass man gar nicht merkt, wie viel man zu verbergen hat.

Die Argumente zum Mitnehmen

Diese Argumente gibt es auch als Flyer in unserem Shop oder als PDF zum Ausdrucken.

Leena Simon

Digitalcourage

Leena Simon ist unsere Netzphilosophin. Digitale Selbstverteidigung? Das ist auf ihrem Mist gewachsen. Digitale Mündigkeit, Rahmenbau und Freie Software sind ihre Lieblingsthemen. Außerdem krempelt sie gerne mal die eine oder andere Website um.

E-Mail: Leena.Simon
PGP: F0C1 0442 B1D3 4151

Die 11 Argumente in ausführlich

Zum verschenken und selberschmökern: Eine etwas ausführlichere Variante dieses Textes erschien auch in unserer Reihe „kurz&mündig“.

Cover des kurz und mündig Büchleins "Nichts zu verbergen - Ein gefährlicher Irrglaube".

Überwachungs- gesamtrechnung

Es ist kaum zu erkennen, wo wir überall überwacht werden. Wir haben eine Übersicht erstellt.

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